Ohne Ego
Essays zu Literatur |
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Erstmals erschienen die neun Aufsätze zwischen 1999 und 2018.
Als E-Book im Dezember 2022 im Eigenverlag forsamin, Berlin, ca. 120 Seiten, ISBN 978-3-945143-20-9 (epub) und 978-3-945143-21-6 (mobi, erhältlich bei Amazon).
"What is the first and principal thing he does?"
Thomas Harris: The Silence of the Lambs (1988)
"Es war schon nicht mehr die reine Lust, Theaterkritiker zu sein, aber noch immer ein Vergnügen, in dem Kampfgetümmel unpopuläre Meinungen zu vertreten. Von meiner gehaßten Infanterie-Ausbildung hatte ich doch einen brauchbaren Satz in mein Berufsleben eingeführt: 'Schußfeld ist wichtiger als Deckung.'"
Georg Hensel: Glück gehabt (1994)
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▲ Ohne Ego - Essays zu Literatur (2022)
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Minilieb – Winston und Julia in Orwells 1984. Zum fünfzigsten Jahrestag des Romans. Erschienen unter dem Titel "Ministerium für Liebe" in: Am Erker Nr. 37, Münster, Juni 1999
Die meisten Untersuchungen über Orwells Totalitarismus-Klassiker
behandeln fast ausschließlich die politischen und sozialen Aspekte
und klammern die 'Love Story' zwischen dem Held Winston und
seiner Geliebten Julia gerne aus, obwohl dieser Stoff ein Drittel des
Buches beansprucht.
Es ist nach über fünfzig Jahren 1984, nach dem Ablauf
des Datums 1984 und dem Wegfall der ideologischen Zweiteilung der Welt,
zu zeigen, dass dieses Buch ohne seine Love Story gar nicht funktionierte.
In einer am Stoff orientierten, werkanalytischen Arbeit zeige ich, dass
die Verinnerlichung von Politik und Zeitumständen in der Liebesgeschichte
überhaupt erst die weitere Handlung ermöglicht, denn die letzte
Brechung des Opfers Winston im "Ministerium für Liebe"
erfolgt über dessen Liebe zu Julia und kann auch nur so gelingen.
Orwell geht darin einen wichtigen Schritt über Arthur Koestler (Sonnenfinsternis von 1940) hinaus: Eine wirklich moderne Unterdrückungsmaschinerie
muss die Liebesgefühle mit einbeziehen. |
▲ Erstausgabe Nineteen Eighty-Four (1949)
▲ Nineteen Eighty-Four, erste Seite des Typoskripts Orwells
▲ Schutzumschlag der deutschen Erstausgabe (Diana Verlag,
Rastatt 1950). Vergrößern durch Anklicken. Oder auch Download
in höherer Auflösung hier.
▲ Am Erker Nr. 37 (1999)
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One-Night-Stand im Hades. Arno Schmidts Tina oder Über die Unsterblichkeit. Erschienen in Macondo Nr. 12, Bochum, Dezember 2004
Der Beitrag erschien in der Kategorie "Herzensbuch".
In Arno Schmidts Version des Dichter-Hades spaziert das Ich, der unverkleidete
Autor, in der Dämmerung des Novembers 1955 durch Darmstadt. In
einer Apotheke trifft er einen Mann ("entweder Schwätzer oder
Kollege, also halb Deubel halb Satan"), der ihn anspricht und ihn
nach bestandener Gesinnungsprüfung ("Sie sind Atheist? : Ich
auch.") einlädt, 36 Stunden in genau dem Hades zu verbringen,
den der Erzähler als das Autorenjenseits ohnehin vermutete. So
eine Stippvisite ließe sich einrichten, denn: "Wir dürfen
das alle 10 Jahre einmal machen, daß wir Einen mit runternehmen".
Dieser nette Agent führt ihn zu einer Litfasssäule, in die
ein Zeitungskiosk eingebaut ist. Hier im Büdchen zwischen Welt
und Totenreich arbeitet Tina Halein, eine untote Lyrikerin (1801-1877). Der Einstieg geschieht
James-Bond-artig durch die hohle Säule, mit einem engen Aufzug.
Schon während der Fahrt küsst Tina den Erzähler und schiebt
ihm konspirativ ihre jenseitige Adresse zu. Unten im Hades, einem städtischen
Höhlensystem, hängen die toten Autoren herum, zwar in ihren
ehemals schönsten, frei zu wählenden Verkörperungen -
aber sie leiden.
Das Prinzip ist so einfach wie einleuchtend: Sie, die zu Lebzeiten ihre
Namen wie markierende Hunde überall hinterließen und zwanghaft
ihr Werk sichern wollten, sind genau deshalb in der Nachwelt verflucht.
Ihr personales Jenseits ist verwirklicht, aber es bedeutet ihnen nichts
mehr. Die Jahrhunderte des Unvergessenseins werden zur Folter. Die Autoren
dürfen erst dann richtig sterben, wenn dort oben nicht der geringste
Hinweis auf sie mehr existiert. Die Sehnsucht nach der fernen endgültigen
Auslöschung bewegt die Untoten.
Diese Göttliche Komödie von 1956 ist ein Heiden-Spaß
im Betthupferlformat, eine hochkonzentrierte und dabei vergleichsweise
federleichte Erzählung, die für Schmidt-Neulinge ein idealer
Einsteig ins Werk wäre, ähnlich wie der Erzähler von
der verstorbenen Tina in die Unterwelt eingeführt wird. |
▲ Macondo
Nr. 12
▲ Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Band 2
▲ Namensgeberin Tina Halein (1801-1877)
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Getto der Gattung. Stanislaw Lems Phantastik und Futurologie - eine Beseufzung der Science-Fiction. Erschienen in: die horen, Band 217, Bremerhaven, März 2005
Stanislaw Lem (1921-2006) dürfte weltweit der einzige
Schriftsteller sein, der erstens die Science-Fiction vorangebracht hat
(mit Romanen wie Solaris, Transfer und Der Unbesiegbare),
der zweitens die Gattung parallel dazu ironisierte (mit seinen pikaresken
Helden Tichy, Pirx und Trurl), der drittens auch noch sein Schaffensumfeld
in dickleibigen Werken untersuchte - und das alles innerhalb kürzester
Zeit (1957-1970) vollbrachte.
Wesentlich behandelt Phantastik und Futurologie auf über elfhundert
Seiten die Frage, warum die Science Fiction seit den Groschenheften der
1930er Jahre minderwertig geblieben ist. Lem trauert, und er spottet,
und er lässt seine Anwartschaft auf eine Spitzenposition gerne durchscheinen.
Intellektuell geht es ihm um den Bezug zum weltlichen Gehalt eines Werkes,
handwerklich um die Kluft zwischen Potenzial und schlechter Durchführung,
um die verschenkte Chance einer fröhlichen Wissenschaft als Erzählform.
Streng genommen lassen Lems Analysen und Forderungen nur einen schmalen
Durchlass für hochwertige Science-Fiction zu: Wenn diese Literatur
rätselhaft und interpretierbar sein soll, zugleich aber nicht gezwungen
sein darf, auf Mythen und Fantasy-Effekte zurückzugreifen, wenn sie
weder allzu exzessiv noch zu gedanklich konzipiert sein soll, könnte
ihre Qualität einzig im spannenden Herantasten an wissenschaftliche
Zweifelsituationen bestehen. Demnach wäre der unverzichtbare Fonds,
die Basiszutat eines guten SF-Romans: die Expedition.
Die Hoffnung, dass die Gattung sich entwickeln werde, weicht einer pessimistischen
Einschätzung. Lem liefert eine brillante Zustandsbeschreibung bis
zu den Sechzigerjahren, und sie stimmt melancholisch. Welch eine Blockade
stattgefunden hat, wurde in diesem Essaywerk prognostiziert. Lem behandelt
historisch gesehen die Hoch-Zeit der wissenschaftlichen Phantastik. |
▲ die horen Band 217 (2005)
▲ Phantastik und Futurologie Band I, erstmals 1964 erschienen
▲ Phantastik und Futurologie Band II, erstmals 1964 erschienen
▲ Summa Technologiae, erstmals 1964 erschienen |
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Babyboy – Klaus Kinski auf kleinster Bühne. Erschienen in Macondo Nr. 13, Bochum, Juni 2005
Heutige Prominenten-Autobiografien wirken gegen Kinskis
druckvolle, meistens dick hingemalte, dann wieder unwirsch raffende Lebenserinnerungen
wie Dreiliterautos gegen ein V8-Monster. Dabei ist Kinski als Hauptfigur
und Mittelpunkt sonst nur unter Werner Herzogs Regie grandios. Zahlreiche
Regisseure bauten ihn ab den Sechzigern gezielt als verrückten Nebendarsteller
ein, als Kontrapunkt, als bewegten Starrer und vitalistischen Zombie.
Er selbst wusste früh, dass vom Schrott allein seine Erscheinung
übrig bleiben würde.
Der Bürgerschreck benutzte und beherrschte die tradierten Formen,
doch im Ganzen hatte er keinen Sinn fürs Maß. Kinski war nicht
avantgardistisch, er war überdosiert. Ohne die Hemmnisse der Ensemble-Arbeit,
ohne die Heerscharen von Spießern, die ihn einengten und aufhielten,
ausgerechnet ohne die Kleingeister hätte er wenig Brauchbares hinterlassen.
Der Eichborn-Verlag druckte 2001 schaurige aufgefundene Gedichte von ihm
(deren Herkunft bezweifelt wurde), und sein einziger eigenproduzierter
Streifen ist ein wirrer, verwaschener Super-8-Stummfilm. Kinski solo zu
genießen, ohne ihn zu sehen und zu hören - in seinen Büchern
ist es möglich. Hier steht er auf denkbar kleinster Bühne und
gibt sich portionierbar. |
▲ Cover Macondo Nr. 13 (2005)
▲ Klaus Kinski: Ich brauche Liebe (1991)
▲ Klaus Kinski: Paganini (1992) |
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Galeerensklaven genehmigt. Jahre mit Vladimir Nabokov. Erschienen in: Am Erker Nr. 58, Münster, Dezember 2009
Vladimir Nabokov (1899-1977) ist in Mode und zugleich einer der größten
un-"authentischen" Autoren der letzten hundert Jahre. Mit ihm bleibt man
selbst nach Jahrzehnten der Beschäftigung per "Sie",
und nicht einmal seine Memoiren ändern das. Der Mann entzieht sich
einfach, ohne irgendwem den Gefallen zu tun, aktiv zu flüchten
in einer wie auch immer motivierten Koketterie, die man "menschlich"
nennen könnte, oder sich zwanghaft zu verstecken. Analysiert man
seine Texte, entziffert man Andeutungen und präpariert Motivstränge
heraus, so endet die Nabokovsche Rätselstrecke in keinerlei Erkenntnis,
keiner biografischen Enthüllung, auch sonst in keinem Schluss,
jedesmal fehlt etwas nach der Schnitzeljagd. Dieser Autor personifiziert
das Spiel, und Ernst macht bei ihm vor allem sein eiserner Leichtigkeitsstil.
Man wird nicht wirklich warm mit ihm, andererseits stößt
man ihn deshalb auch nicht von sich: Er ist weder Vaterfigur noch das
Objekt eines Vatermordes, taugt letztlich weder als Lehrer noch als
Leitbild, Guru oder Augur, und nie nickt er einem zu oder fordert etwas.
Und das, obwohl es eine geradezu sektenhafte Ergebenheit verlangt, sich
mit ihm im selben Medium zu befassen. Über Nabokov zu schreiben,
führt schnell dazu, seine Art zu kopieren und dann eine gedrechselte
Nachahmung abzuliefern. Muss man zur Annäherung an den Meister
dessen unformulierte ästhetische Gesetze befolgen, um überhaupt
einen Zugang zu finden? Das Hinterherspüren scheint tatsächlich
die Hauptarbeit bei der Beschäftigung mit ihm zu sein, und deshalb
imitiert man als Mammutjäger eben den Tanz des Mammuts. So wie
man das Tier versteht. Oder wie man es verwenden will. Es dauert seine
Zeit, bis man weiß, was man an Nabokov brauchen kann. |
▲ Am Erker Nr. 58 (2009)
▲ Deutsche Erstausgabe von Lolita (1959)
▲ Erstausgabe von Lolita (1955)
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Der Igel. Zweimal Büchner. Der persönlich gehaltene Essay zu meiner
Werkslektüre erschien zum 200. Geburtstag des Autors im Oktober 2013, seitdem online unter literaturkritik.de. |
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Ohne Ego. Die willenlosen Helden im Werk von Anthony Burgess (1917-1993) erschien zum 100. Geburtstag des Autors. Seit Februar 2017 online unter literaturkritik.de
Eingelesen wurde der Essay vom Literaturradio Bayern (Freier Deutscher Autorenverband)
Eine Untersuchung des Gesamtwerks zum Aspekt 'Heldenfiguren'. Der Autor, der es geschafft hat, die Sicht der Literaturwissenschaft und Kritik auf sein Werk zu lenken im Sinne einer Spezialisierung (und Verengung) auf den angeblichen Kampf zwischen Gut und Böse, hielt sich selbst nicht an diese journalistisch leicht zu verwertende Richtlinie. Im Gegenteil sind seine Helden mit Ausnahme von Alex in A Clockwork Orange eher antriebsschwach und immer einer höheren Ordnung untertan. Die Helden in Burgess' Werk sind die Romane selbst.
Da viele Buchcover zu Burgess nicht im Netz zu finden sind, biete ich hier einige davon an, auch in hohen Auflösungen. |
▲ Der Fürst der Phantome, deutsche Erstausgabe. Stuttgart: Klett-Cotta 1984
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Irrwisch. Ernst Jüngers „Arbeiter” war der erste Avatar. Zum zwanzigsten Todestag des Autors. Zu lesen unter dem Titel "Irrwisch von undefinierter Gestalt" seit Februar 2018 unter literaturkritik.de
Zu Jüngers 20. Todestag erschien diese Untersuchung des wohl irrwitzigsten Buches des Autors: Jüngers esoterische, entrückte, pompöse, raunende Vision einer kommenden "Gestalt" im Kampfgrabengewühl zwischen Nationalismus und Bolschewismus und alle Extreme vereinigendem Bürgerhass. Sie ist eher Fantasy als Prognose, eher Superheldencomic als Vision. Jüngers "Arbeiter" dürfte der erste Avatar der Kulturgeschichte gewesen sein, ein Unsterblichkeit verheißendes, kaum illustriertes, umrisshaftes Körpergespenst, das Jünger nie konkret herzeigte und das sich nie an der Realität messen musste.
(Siehe auch die eigene Seite zu meiner Magisterarbeit von 1996 und die Cover-Scans einiger Jünger-Ausgaben von 1922 bis 2002) |
▲ Der Arbeiter. Erstausgabe. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, September 1932
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Maschine. William Gaddis und das Räderwerk der Welt. Zum zwanzigsten Todestag des Autors. Zu lesen seit Dezember 2018 unter literaturkritik.de
Hier findet man fast alles. Gaddis hat dafür gesorgt, dass seine formal sehr unterschiedlichen Riesenromane unendlich viel Material, Geschichten und Bezüge anhäufen wie Naturkundemuseen mit angegliederten Kuriositätenkabinetten, weil sie die Welt an sich packen sollten, aus Übermut oder Wut.
Gaddis, getrieben von geistigen, geistlichen, geisterhaften Systemen, schien in seinen monumentalen ersten beiden Romanen ein hochkomplexer Vorläufer des zeichenmanischen Enzyklopäden Umberto Eco gewesen zu sein, was u.a. Gaddis‘ Hauptinterpret Steven Moore schon 1982 feststellte. Der in New York geborene Agnostiker, der in einer Quäker-Familie aufwuchs, schuf semantische Schlachtengemälde und pflügte Sein und Bewusstsein mal lustvoll, mal grimmig unter. Gegenüber dem ironischen, im Katholizismus aufgewachsenen Agnostiker Eco, war Gaddis mit einer weiteren Sorte Humor gesegnet: dem verbitterten. So herrscht in seinen Büchern oft ein protestantisch geprägtes Misstrauen gegen jede mildernde Abrundung der Welt. Es ist der Humor eines Autors, der sich abschuftet an der conditio humana.
William Gaddis:
- The Recognitions. New York: Harcourt, Brace & Company, 1955. Deutsche Übersetzung: Die Fälschung der Welt. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1998.
- JR. New York: Alfred A. Knopf, 1975. Deutsche Übersetzung: JR. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1996.
- Carpenter’s Gothic. New York: Viking, 1985. Deutsche Übersetzung: Die Erlöser. Reinbek: Rowohlt, 1988.
- A Frolic of His Own. New York: Poseidon Press, 1994. Deutsche Übersetzung: Letzte Instanz. Reinbek: Rowohlt, 1996.
- Agapē Agape. New York: Viking Penguin, 2002. Deutsche Übersetzung: Das mechanische Klavier. München: Manhattan, 2003.
Paul Ingendaay:
- Die Romane von William Gaddis. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 1993.
Steven Moore:
- A Reader’s Guide to William Gaddis’s ‘The Recognitions’. Lincoln: University of Nebraska Press, 1982. Deutsche Übersetzung: Die Fakten hinter der Fälschung: Ein Führer durch William Gaddis’ Roman ‚Die Fälschung der Welt‘. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1998.
- William Gaddis. Boston: Twayne, 1989; Expanded Edition: New York: Bloomsbury, 2015.
Joseph Tabbi: Nobody grew but the Business. On the Life and Work of William Gaddis.Evanston, IL: Northwestern University Press, 2015. |
▲ William Gaddis: Die Fälschung der Welt. Übersetzt von Marcus Ingendaay. Deutsche Erstausgabe. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1998
[max. Auflösung]
▲ Steven Moore: Die Fakten hinter der Fäschung. Ein Führer durch William Gaddis' Roman 'Die Fälschung der Welt'. Übersetzt von Klaus Modick. Deutsche Erstausgabe. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1998
[max. Auflösung]
▲ William Gaddis: JR. Übersetzt von Marcus Ingendaay und Klaus Modick. Deutsche Erstausgabe. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1996
[max. Auflösung]
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